Eindrücke aus der Türkei: Film und Ausstellung in der Stadtbücherei
“Kinderspiele in Südost-Anatolien” hat Emel Aydoğdu ihre dokumentarische Fotoausstellung genannt. Beim ersten Blick auf die 14 Bilder nimmt sich das ganz nett aus – muntere bunte Eindrücke vor Hauseingängen und staubig grauen Straßen. Aber dann ploppt ein Paradox auf. Wie passen der Bäcker (#4), der Luftballon-, der Souvenir-, der Zuckerwatteverkäufer (#6, 7, 9) ins Schema? Kinder sind sie ohne Frage – aber was sie machen, wirkt jetzt eher nicht wie der hölzerne Kaufmannsladen in mitteleuropäischer Tradition. Bitterböse Kinderarbeit also? Oder muss hier irgendwie anders gedacht werden?
Emel zeigt die Kinder so, dass ein Eindruck von Alltag entsteht: einzeln, mit etwaigen Geschwistern, mit ihrer Clique. So bonbonrosa ihre Umgebung mitunter aufflackert, so wenig scheinen sie Materielles zu benötigen, damit ihre Spiele funktionieren. Und immer wieder bricht das Bild vom fröhlichen Zeitvertreib: Wie lange mag das Hühnchen das Plastikpferdchen in der Faust des Jungen im Hündchenpullover überleben? Trainiert der Flaschenwerfer etwa für die nächste Demonstration? Wie soll sich das Kuddelmuddel beim Esel-Spiel bloß ohne Verletzte wieder auflösen? Und Hoffnung – Hoffnung worauf?
Gerahmt durch Zitate von Rainer Maria Rilke und Antoine de Saint-Exupéry laden die Fotos an der transparenten Wand zur “Karriere-Bücherei” (Eine mitteloriginelle Anspielung? Oder wahrscheinlich doch nur eine praktische schicke Glasfläche.) ein, Kinderaugen flüchtig zu streifen, die Geschichteninterpretationsmaschine anzuwerfen und das Produzierte flugs wieder zu verwerfen, Farbanalysen anzustellen, sich irritieren, sich vereinnahmen, sich emotional anstupsen zu lassen, um doch wieder auf Distanz zu gehen.
Einen ganz anderen Tonfall schlägt der Kurzfilm “Ich bin Özgecan” an, der als Loop im Obergeschoss der Bücherei zu betrachten ist. Eine Frauenstimme erzählt aus der Perspektive der Studentin Özgecan die Geschichte von deren Ermordung durch einen Busfahrer. Den realen Kriminalfall aus der türkischen Provinzstadt Mersin lassen Emel Aydoğdu und Burcu Uygur auf der Bildebene unzählige Frauenaugen in Nahaufnahme schildern. Viele junge Augen, die mit der Zuspitzung der Erzählung, zum Mord hin, älter werden. Vielleicht ein bisschen zu alt und zu weise? Eindrucksvoller ist der Hintergrundton, ein von Anfang bis Ende immer wiederholtes Element, das dennoch erst richtig auffällt, wenn die Sprecherin leiser wird und schließlich schweigt. Ohne sich selbst zu steigern, evoziert es eine feine Spannung und nimmt in seiner Anlehung an das Geräusch eines vorbeifahrenden Fahrzeugs nicht nur den Inhalt der Geschichte, sondern auch das Thema des plötzlichen gewaltsamen Vergehens wieder auf.
Für beide Werke in der Stadtbücherei sollte man sich die Zeit, muss aber nicht zwangsläufig den Stress der morgigen Samstagsöffnungszeit auf sich nehmen: Sie sind, technische Funktionstüchtigkeit vorausgesetzt, noch bis Ende November in Ruhe zu betrachten.